Das Zeitalter der „Selbstverblödung“ und des Obskurantismus – Warum Bullshit funktioniert!


Eine hervorragende Analyse aus dem Psychologie Heute-Blog  von dem Diplom-Psychologen Heiko Ernst!

VERDUNKELUNGSGEFAHR

Von Heiko Ernst

Oder: Was der Bulle hinter sich lässt

Die Illusion, dass die Informationsgesellschaft auch eine weltweite Wissensgesellschaft wird, ist zerstoben. Vor allem die Erfindung des Internets weckte die Hoffnung, alles Wissen dieser Welt könne nun von jedem jederzeit angeklickt werden – und die Multiplikation des Wissens führe zu einer neuen Phase der Aufklärung, der Rationalität und Bildung. Aber wir erleben gerade, so scheint es zumindest, den Beginn eines Zeitalters, in dem es eher darum geht, pausenlos Selbst-Botschaften, haltlose Behauptungen oder tief empfundene Meinungen auszustoßen.

Immer mehr Menschen bewegen sich informationstechnisch längst in einer nahezu faktenfreien Blase. Sie rezipieren nur noch das, was (zu) ihnen passt, was ihr Interesse, ihrer Wut, ihre Ängste noch weiter verstärkt. Das derzeit oft bemühte Bild für diesen Stil der Informationsaufnahme und -verarbeitung ist das der „Echokammer“. Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Bestätigung ist offenbar mächtiger als das nach Wissen und Verstehen. So greift einerseits eine Art Selbstverblödung um sich. Andererseits machen regelrechte Kaskaden von Lügen und Gerüchten aus dem Zeitalter der Information auch eines der Desinformation und des Obskurantismus.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit heute auf eine sich schnell ausbreitende, „gehobenere“ Gattung der Nicht-Wahrheit lenken. Für diese hat 2005 der Philosophieprofessor Harry Frankfurt den Begriff bullshit reserviert. (Das Buch On bullshit liegt auch auf deutsch vor: Bullshit, Suhrkamp 2006). Bullshit ist definiert als eine Äußerung oder Behauptung ohne Beachtung des Wahrheitsgehaltes. BS unterscheidet sich von der dreisten Lüge dadurch, dass ein Lügner immerhin einen Bezug zur Wahrheit hat – die er bewusst verdrehen oder verdecken will (Beispiel: Putins Propaganda-Aktion im „Fall Lisa“). Dem bullshitter kommt es dagegen auf Beachtung an, das „Material“ ist ihm fast egal – es können Halbwahrheiten, Gerüchte, abgestandene Vorurteile sein. Was zählt, ist lediglich das Erregungspotenzial, denn er will die Empfänger in erster Linie beeindrucken oder agitieren (etwa Björn „1000 Jahre Deutschland“ Hoeckes Ausführungen über rassisch bedingte Fortpflanzungstendenzen).

Warum bullshit funktioniert

Deshalb verwendet der bullshitter gerne eine prätentiöse, pseudo-tiefsinnige und pseudo-wissenschaftliche Sprache, in der es von vagen Begrifflichkeiten, Tautologien und Neologismen nur so wimmelt (wer jetzt an Heidegger denkt – bitte dranbleiben!). Theodor W. Adorno hat 1963 in seiner Studie über den Jargon der Eigentlichkeit gezeigt, wie dieses Sprachmuster imponieren, verwischen oder überrumpeln will. Und dass es dafür eine Empfänglichkeit gibt, die man im Allgemeinen unterschätzt. Ein kleiner, feiner Forschungszweig der Sozialpsychologie untersucht neuerdings, wie und warum bullshit heute funktioniert.

So hat eine Gruppe um den kanadischen Psychologen Gordon Pennycook mithilfe eines bullshit-Generators sinnfreie, aphorismusartige Sätze gebildet („Ein verborgener Sinn transformiert abstrakte Schönheit“) und sie mit sinnhaltigen Sätzen („Steter Tropfen höhlt den Stein“) bunt gemischt. Modell für den Pseudo-Tiefsinn waren die Tweets des New Age-Gurus und Erfolgsautors Deepak Chopra („Attention und Intention bilden die Mechanik der Manifestation“). Hunderte von Versuchspersonen sollten nun jeweils zehn Sätze nach ihrer „Tiefe“ bewerten. Daneben absolvierten alle Teilnehmer auch Tests, in denen ihr kritisches Denkvermögen (logisches Schlussfolgern, analytisches Denken usw.) erfasst wurde. Außerdem prüfte man ihre Neigung zu intuitiven Entscheidungen und zu magischem Denken sowie ihre religiöse Überzeugungen (etwa Glaube an ewiges Leben, Heilung durch Gebete, Engel usw.).

Wenig erstaunlich, dass sich die Ergebnisse so zusammenfassen lassen: Je gläubiger, intuitiver und unkritischer Menschen im Allgemeinen sind, desto eher halten sie bullshit für Tiefsinn. Je skeptischer und analytischer sie denken, desto eher lehnen sie die bullshit-Sätze ab. Die Neigung, sich auf Unsinn einzulassen, ist unterschiedlich verteilt. Aber, und das ist das verstörende Ergebnis dieser Experimente: Auch die kritischsten Skeptiker fielen auf einige Produkte des bullshit-Generators rein. Niemand scheint völlig dagegen gefeit zu sein, sich durch prätentiösen Nonsens beeindrucken zu lassen. Wir alle sind hin und wieder Gimpel oder Simpel. Und halten etwas für tiefsinnig, nur weil wir es nicht auf Anhieb verstehen.

Mit Skepsis tun wir uns schwer

Die Anfälligkeit für bullshit ist offenbar in uns angelegt. Manchmal wollen oder müssen wir einfach etwas glauben – und nicht hinterfragen. Manchmal ist uns eine Quelle, die wir schätzen, wichtiger als der Inhalt einer Botschaft. Der Philosoph und Vorkämpfer der Aufklärung, Baruch Spinoza, meinte sogar, dass Menschen erst etwas glauben müssen, um es wirklich zu verstehen. Und die heutige Sozialpsychologie geht von einem response bias aus, das uns allen zu eigen ist: Wir erwarten nicht von vornherein, dass uns jemand belügen oder verscheißern will. Es existiert also eine deutliche Asymmetrie zwischen Glaubenwollen und Skepsis.

Erst in einem zweiten Schritt (und häufig auch nie) setzt kritischeres Denken ein – wir stoßen auf Widersprüche, zweifeln an der Redlichkeit der Quelle, fangen an, Fragen zu stellen, uns besser zu informieren. Manchmal bleibt der Wille zu glauben aber stärker als alle Gegenbeweise. Ein bedrückendes Beispiel ist die Kampagne gegen das Impfen, das angeblich zu Autismus oder anderen Störungen führt. Sie ist das Resultat von wissenschaftlich verbrämtem bullshit, dessen Urheber zwar schon mehrfach widerrufen hat – ohne die Gläubigen von ihrem Wahn abzubringen.

Um es noch einmal zu betonen: Auch Bildung und Wissen schützen nicht unbedingt vor der Anfälligkeit für bullshit. Im akademischen Milieu sind die wichtigsten Motive fürs Bullshitten oft besonders ausgeprägt: Imponiergehabe und Wichtigtuerei. Das hat der Physiker Alan Sokal 1996 in einem bullshit-Experiment belegt: Er schrieb einen völlig absurd-sinnfreien Text darüber, dass die Schwerkraft auch nur ein „soziales Konstrukt“ sei. Sein Artikel strotzte vor modischem postmodernen Jargon und quantenphysikalischen Begriffen – und gefiel den Herausgebern und Lesern der kulturwissenschaftlichen Fachzeitschrift Social Text. Niemand bemerkte den Quatsch, bis Sokal in seinem Buch Eleganter Unsinn alles offenlegte und eine intensive bullshit-Diskussion anstieß. Nicht besonders nachhaltig: Vor Kurzem hat der Soziologe Peter Dreier eine ähnliche Nummer abgezogen: Er reichte für einen Fachkongress der International Society for Social Studies (mit dem schon sehr bullshit-verdächtigen Titel On the Absence of Absences) die Kurzfassung eines Vortrages ein, der als reiner bullshit angelegt war: pseudo-soziologisches Geschwafel, garniert mit frei erfundenen Heideger(sic!)-Zitaten. Er wurde eingeladen, man freue sich sehr auf seinen spannenden Vortrag.

Deepak Chopra
Impfkritik

5 Gedanken zu “Das Zeitalter der „Selbstverblödung“ und des Obskurantismus – Warum Bullshit funktioniert!

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  2. Bullshit wird nicht nur in der Esoterik weltweit verbreitet. Auch die Vereinigung der Religioten versorgt die Welt schon seit Urzeiten mit ihrem frei erfundenen, durch nichts bewiesenen spirituellen Bockmist. Schon vor geraumer Zeit habe ich die These aufgestellt, dass Religionen (alle, ohne Ausnahme) den sozio-philosophischen Fortschritt der Menschheit verhindern. Während die Menschheit sich in technologischer Hinsicht in wenig mehr als 100 Jahren vom Fußgänger zum Flieger und Astronauten entwickelt hat, ist die sozio-philosophische Entwicklung der Menschheit im finstersten Mittelalter stehen geblieben. Der Beweis: die Menschheit führt noch immer Kriege und ist der Meinung, dass dadurch Probleme gelöst werden können.

    Es liegt in der Natur der Sache, dass der technologische Fortschritt für jedermann sichtbar und leicht nachvollziehbar ist, während die sozio-philosophische Weiterentwicklung nur durch intensives Nachdenken realisiert werden kann. Ein im Gegensatz zum technologischen Fortschritt wesentlich mühsamerer Fortentwicklungsprozess. (Das Nachdenken fällt großen Teilen der Menschheit eben schwer!)

    Es besteht folgerichtig ein erhebliches Defizit im rationalen Denken. Es kann sich daher eine geistige Verirrung herausbilden, die sich darin äußert, dass esoterische und religiöse Fantasien das rationale Denken überlagern und beherrschen. Von dieser Fehlentwicklung profitieren letztlich die esoterischen Betrüger und Scharlatane, aber auch die Verbreiter von religiotischen Mythen und Legenden.

    Wer z.B. die Ansicht vertritt, dass Gebete in der Lage sind, irgendetwas zu bewegen, dem muss man ein ziemlich naives Gemüt unterstellen. Die Annahme, dass da oben im Himmel ein göttliches Wesen existiere, welches für die Erfüllung von Wünschen und Gebeten zuständig sei, ist an Naivität nicht mehr zu überbieten. Die Verkünder eines Gottglaubens und die Verkäufer von esoterischem Schwachsinn profitieren letztlich samt und sonders von Menschen, die diesen Selbstbetrug für eine Tugend halten. Eine offenbar nur schwer zu heilende Krankheit, die man sich nur durch einen offensichtlichen Mangel an rationalem Denken erklären kann. Dies ist gleichzeitig auch die Erklärung für den eklatanten Rückstand im sozio-philosophischen Denken der Menschheit.

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  3. Was ich noch sagen wollte: Religion ist die staatlich legitimierte Variante der Esoterik! Man könnte es auch als staatlich sanktionierte Selbstverblödung bezeichnen.

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