Gastbeitrag von Dipl.-Psychologin Dr. phil. Susanne Kretschmann
„Neurophysiologie der Willensfreiheit – Eine Übersicht der empirischen Experimente“
Ist der subjektiv empfundene freie Wille, etwas zu tun oder zu lassen, nur eine Illusion? Werden unsere Entscheidungen und Handlungen ausschließlich von Naturgesetzen gesteuert oder sind wir selbst die Akteure?
Vor dreißig Jahren erregten die Studien des Neurophysiologen Benjamin Libet auch außerhalb des Fachs Aufsehen: Sie legten nahe, dass schon vor einer bewussten Entscheidung für eine Handlung eine neurophysiologische Aktivierung („Bereitschaftspotential“) nachweisbar ist. Schon 1965 hatten Kornhuber und Deecke demonstriert, dass einem Willensakt (das spontane Beugen eines Fingers) eine messbare elektrische Veränderung der Gehirnaktivität im EEG vorangeht.
In den folgenden Jahrzehnten gab es fast 130 Studien, die mit Hilfe von EEG und bildgebenden Verfahren die Frage klären wollten, ob das menschliche Verhalten deterministisch bedingt ist, also ausschließlich durch neuronale Prozesse erklärt wird oder nicht.
Murat Karul hat in seiner Dissertation die empirische Forschung zum Thema gesichtet und zusammengefasst.
Nach einer Übersicht zur Diskussion der Willensfreiheit in Philosophie, Theologie und Strafrecht folgt eine kurze Beschreibung der funktional-anatomischen Grundlagen der neuronalen Prozesse. Die Entscheidung, eine banale Bewegung auszuführen, laufe in vier Phasen ab:
1. Initiierung eines Willensaktes im limbischen System;
2. Verteilung des Willensaktes in höhere Gehirnregionen;
3. Evaluation des Willensaktes im Kortex;
4. Mögliche „Veto-Funktion“, also die bewusste Entscheidung, die Bewegung nicht auszuführen.
Den größten Teil des Buches nimmt die Beschreibung aller Studien zum Thema ein, die seit den Arbeiten von Libet erschienen sind. Karul klassifiziert sie nach Designs und Ergebnissen und fasst sie hinsichtlich ähnlicher Fragestellungen in Cluster zusammen. Anschließend bewertet er sie in Bezug auf ihre Relevanz für mögliche Antworten der Fragen zu Willensentscheidungen unterschiedlicher Komplexität und deren Konsequenzen.
Sein Fazit: Während einfache Bewegungen wie das Beugen eines Fingers oder ein Knopfdruck in ihren neurophysiologischen Korrelaten experimentell gut erfassbar sind, aber keine weiteren Konsequenzen für weitere Handlungen haben, ist die experimentelle Untersuchung von komplexeren Handlungen mit höherer Konsequenz mit den verwendeten Methoden nicht möglich. Komplexität wird in den wenigen Studien, die versucht haben, diese Variable einzubeziehen, durch Schnelligkeit, Geschicklichkeit und das Zusammenspiel verschiedener Muskelgruppen definiert, indem das Drücken einer Taste am Klavier mit dem Spielen einer einfachen Melodie mit vier Fingern verglichen wird.
Es sei deshalb keine Aussage darüber möglich, inwieweit vermeintliche Willensfreiheit durch vorhergehende, nicht bewussstseinsfähige neuronale Aktivität determiniert ist. Damit kritisiert er auch die Schlussfolgerungen in vielen der Arbeiten, die von einfachen Bewegungen auf den – vorhandenen oder nicht vorhandenen – freien Willen bei komplexen Handlungen und Entscheidungen zu schließen. Insbesondere das Fehlen von Handlungsalternativen in den Versuchen schränke deren Aussagekraft ein.
Leider wird auf die psychologischen Arbeiten zum Thema nur am Rande eingegangen. Fragen wie die der Intentionalität (was soll mit einer Handlung/Bewegung erreicht werden?) oder der zeitliche Ablauf aufeinander aufbauender und sich bedingender Bewegungen spielen keine Rolle – diese sind allerdings nach Karul mit den verwendeten Methoden grundsätzlich nicht erfassbar.. Die Unterteilung von „Willensfreiheit“ in die drei Ebenen Spontaneitäts- (Entscheidung für einfache Bewegungen), Unterbindungs-(bewusste Unterdrückung von Bewegungen) und Besinnungswillensfreiheit (weitreichende Entscheidungen bis hin zur Lebensplanung) nach Laucken (2005) wird der Komplexität der Frage nicht ganz gerecht. Diese Reduktion ist allerdings weitgehend dem Fach und seinen technischen Möglichkeiten geschuldet.
Für wen ist die Arbeit interessant?
Neben der Fachöffentlichkeit (Neurophysiologen, aber auch Psychologen) könnte vor allem die kritische Bewertung der bisherigen Forschung im letzten Teil des Buches auch für interessierte Laien einen guten Einstieg in das Thema bieten. Die Ergebnisse der Forschung werden von den jeweiligen Autoren, aber auch in populärwissenschaftlichen Darstellungen meist überinterpretiert, Karul stellt sie in den richtigen Zusammenhang.
Murat Karul
Neurophysiologie der Willensfreiheit
Eine Übersicht der empirischen Experimente
Schriftenreihe Bewusstsein • Kognition • Erleben, herausgegeben von Prof. Dr. Torsten Passie
Band 5
VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung
Berlin 2017
Pingback: Der missverstandene Dunning-Kruger-Effekt | Ratgeber-News-Blog
Hier gibt es übrigens ein Interview mit Murat Karul über sein Buch:
https://die-grossen-fragen.com/2017/05/18/rasterfahndung-per-kernspintomograph/
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