Der missverstandene Dunning-Kruger-Effekt


Gastbeitrag von Dr. Susanne Kretschmann

Fast jeder verwendet den Dunning-Kruger-Effekt (DKE) als Begründung für die irrationalen Ansichten von Verschwörungsgläubigen, Medizingegnern oder Wissenschaftsfeinden. Er bezeichnet die Tendenz inkompetenter Menschen, die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen. Die Psychologen David Dunning und Justin Kruger hatten in Versuchen festgestellt, dass schlechtere Leistungen bei alltäglichen Aufgaben oft mit einer zu hohen Einschätzung der eigenen Kompetenz und der Unterschätzung der Kompetenz anderer einhergehen [1].
Allerdings ist dieser Zusammenhang nicht umkehrbar, eine bessere Leistung ist nicht zwangsläufig mit niedrigerer Selbsteinschätzung verbunden, und aus einer höheren Selbsteinschätzung kann nicht auf geringere Kompetenz geschlossen werden.

Die Ergebnisse von Dunning und Kruger beruhen ausschließlich auf Untersuchungen mit College-Studenten hinsichtlich alltäglicher Kompetenzen wie Grammatik, Schachspielen, Auto fahren. Themen mit wissenschaftlichem Hintergrund wurden von ihnen nicht untersucht.
Der DKE spielt in der psychologischen Forschung und Literatur zu kognitiven Verzerrungen und Fehlschlüssen praktisch keine Rolle, wird aber besonders bei Diskussionen in sozialen Medien zu Themen wie Verschwörungsgläubigkeit oder Alternativmedizin häufig verwendet.
Wer mit dem DKE argumentiert, sollte sich der Einschränkungen und Defizite des Konzepts bewusst sein:

1. Es handelt sich um eine reine Beschreibung. Der DKE sagt nur: Wer inkompetent ist, erkennt sein Nichtwissen oft nicht. Ob David Dunnings Aussage „If you’re incompetent, you can’t know you’re incompetent.“ [2] für alle Lebensbereiche und für eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe gilt, wurde nicht untersucht und kann sicher angezweifelt werden.

2. Es geht nicht um Intelligenz: Dunning und Kruger haben sich ausdrücklich nur mit der Kompetenz der Versuchspersonen bei alltäglichen Aufgaben beschäftigt, nicht mit deren Intelligenz. In Diskussionen wird der Effekt aber verwendet, als handle es sich um ein Intelligenzdefizit .

3. Für diejenigen, die mit dem Effekt bei anderen argumentieren, ergibt sich die komfortable Situation, per Anwendung des DKE die Gegenseite als inkompetenter zu definieren als sich selbst, ohne dies begründen zu müssen. Wenn dann von der Inkompetenz im fraglichen Feld auf die (geringe) allgemeine Intelligenz geschlossen wird, kann man sich jede weitere Begründung sparen: „Der/die ist zu dumm = Dümmer als ich“ wäre eigentlich eine adäquatere und gleichermaßen zutreffende Aussage.

4. Aus dem Effekt kann keine Interventionsstrategie abgeleitet werden, da er keine behebbaren Ursachen benennt. Er sagt nichts darüber aus, wie man versuchen könnte, die irrationalen Ansichten zu beeinflussen. Im Grunde sollte die Argumentation mit DKE zum Abbruch des Versuchs führen, die Meinung anderer durch Belege, Hinweise auf Empirie, Logik oder Kommunikationsstrategien ändern zu wollen, da es sich um eine unveränderliche Eigenschaft handelt.

5. Konsequent zu Ende gedacht würde der Effekt aussagen, dass jeder Mensch sich grundsätzlich überschätzen würde, wenn man sich in einem Thema oder Fach nicht auskennt. Das würde etwa bedeuten, dass sich Physiker für kompetent in Geburtshilfe halten oder Historiker in Biochemie. Schon die alltägliche Beobachtung spricht dagegen.

6. Es gibt eine ganze Reihe empirischer Studien, die zu anderen Ergebnissen kommen als Dunnig und Kruger, nämlich dass die eigenen Fähigkeiten nie exakt richtig eingeschätzt werden, egal ob man in einem Bereich kompetent ist oder nicht. [3]

In letzter Konsequenz ist die Argumentation mit dem DKE paradox, denn diejenigen, die urteilen, verhalten sich in ihrer Begründung wie die von ihnen Kritisierten: Mit einem einzigen Erklärungsmodell, wo genaue Analyse gefragt wäre. Sie sind in der Regel relativ inkompetent, was psychologisches Fachwissen betrifft, sind sich aber in Bewertung ihres Gegenübers und in ihrer Einschätzung völlig sicher. Sie fordern Belege und empirische Beweise für die Behauptungen, die Grundlage für ihr eigenes Urteil stellen sie nicht in Frage.
Vermutlich ist genau das der Grund für den Erfolg des DKE außerhalb der Psychologie: Einfache Antworten auf komplexe Fragen.

Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman, dessen Konzepte wesentlich differenzierter sind, das Verhalten von Menschen besser erklären und voraussagen können und die in der wissenschaftlichen Psychologie unstrittig sind, kommt zu dem Schluss:
„Die Kompetenzillusion ist nicht nur ein individueller Urteilsfehler; sie ist tief in der Kultur der Wirtschaft verwurzelt. Tatsachen, die Grundannahmen infrage stellen – und dadurch das Auskommen und die Selbstachtung von Menschen bedrohen -, werden einfach ausgeblendet.“ [4]

[1] Kruger Justin; Dunning David (1999). "Unskilled and Unaware of It: How Difficulties in Recognizing One's Own Incompetence Lead to Inflated Self-Assessments". Journal of Personality and Social Psychology. American Psychological Association. 77 (6): 1121–1134.
[2] Interview mit David Dunning
[3] Illusory superiority
[4] Kahneman Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken. München: Pantheon Verlag 2015, S. 267.
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6 Gedanken zu “Der missverstandene Dunning-Kruger-Effekt

  1. @ Dr. Susanne Kretschmann

    Danke für den Artikel !

    Ich war und bin jedes mal genervt, wenn in web-Diskussionen der „Dunning-Kruger-Effekt“ auftaucht:

    natürlich immer, um unliebsame Diskutanten abzuwatschen. Sehr beliebt bei den sogenannten „Skeptikern“, die sich aus nur ihnen bekannten Gründen für die intelligentesten Menschen unter der Sonne halten …

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    • Artikel gelesen? Natürlich gibt es die Kompetenzillusion, das bestreitet keine Psychologin. Der erliegt man übrigens auch, wenn man eine Intelligenzeinschätzung per Ferndiagnose abgibt, die offensichtlich statt durch Fachwissen nur durch eigene Vorurteile bestimmt ist.

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      • Artikel gelesen. Sicher. Ich wiederhole nur noch einmal mit eigenen Worten meine Erfahrungen, die ich mit der GWUP gemacht habe.

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      • … die „GWUP“, das sind die „Skeptiker“, die anderen den „Dunning-Kruger-Effekt“ um die Ohren hauen. Ich hoffe es ist jetzt klar, wer wer ist.

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  2. Pingback: Psiram » Leitfaden für Skeptiker – Teil 1: Der Dunning-Kruger-Effekt

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