Sarrazin – der Spiegel unserer Gesellschaft


Ich glaube, ich habe mich seit ich denken kann, nie so sehr aufgeregt wie momentan über die Reaktionen auf Sarrazins Buch.

Thilo Sarrazin ist schon lange als Hyperprovokateur bekannt und man möge sich nur mal an seine Sprüche über Harz IV Empfänger erinnern. Ich meine nicht, dass man ein Gutmensch sein muss, um es widerlich zu finden, dass man Sozialhilfeempfängern vorschlägt, dicke Pullover zu tragen, um Heizkosten zu sparen.

Mit der deutschen Unterschicht hat Sarrazin bereits abgerechnet und Aufmerksamkeit erlangt. Der Mann scheint es zu genießen, ganz groß in der Öffentlichkeit zu stehen, und somit überrascht es nicht, dass ein weiterer Streich folgte. Dass es nun um Migranten geht, verwundert ebenso kein bisschen, und dass er sich ganz bewusst Argumente zusammengeschustert hat, die seinem abstrusen Weltbild ein Mäntelchen der Belegbarkeit umhängen sollen, ist eher typisch.

Wenn man einmal so im Mittelpunkt gestanden hat, weiß man doch, dass sich solche Gegebenheiten nicht so einfach wiederholen lassen. Ergo muss man sich schon Mühe geben, um dieses Ziel nochmals zu erreichen. Das heißt, eine kräftige Schippe drauflegen, auf das, was man bisher an Provokation losgetreten hat.

Herr Sarrazin ist für mich ein erbärmlicher Wichtigtuer, der nach Aufmerksamkeit lechzt. Er hat einen Weg gefunden, trotz nicht erkennbarer herausragender Intelligenz (milde formuliert), miserabler Rhetorik und unübersehbarem unsicheren Auftreten, Superstar zu werden. Ob er überhaupt weiß, was er geschrieben hat oder über was er redet, mag angezweifelt werden.

Zitat Sarrazin:

„Ich kann doch nicht jedes Mal, bevor ich irgendetwas sage, darüber nachdenken, wie es wo ankommen könnte. Die treffendsten Aussagen fließen vom Stammhirn direkt ins Sprachzentrum und werden nicht weiter vom Großhirn kontrolliert – sonst werden sie ja auch nicht wirklich gut.“

In der Esoterik nennt man diese Vorgehensweise „Channeln“

Laut Umfragen stehen ca. 80 % der Deutschen hinter Sarrazin. Wie ist das möglich?

Erstens geht es weiß Gott nicht um das ernst zu nehmende Thema der oft fehlenden Integration, das schon lange von dem Bürgermeister Heinz Buschkowsky des Berliner Bezirks Neukölln und auch von der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig sehr kritisch aber sachlich zur Sprache gebracht wurde, um angebrachte Lösungen zu finden.

Zweitens: Kein denkender Mensch ignoriert diese Problematik und alle sind sich einig, dass hier vieles im Argen liegt.

Trotzdem gab es weder angeregt durch Buschkowsky, noch durch Heisig einen nur annähernden Medienhype und eine entsprechende und so nachhaltige Unterstützung aus der Bevölkerung wie nun bei Sarrazin.

Somit ist doch ganz klar, dass sich der „Mainstream“ an vorrangiger Stelle mit den primitiven unlauteren frechen Unterstellungen, die Sarrazin von sich gibt, identifizieren kann und natürlich auch mit den Schlussfolgerungen, die er in irrationaler Weise zieht.

Das Stammtischniveau sucht nach einfachen Erklärungen und Lösungen. Da kommt es gerade recht, wenn solche simplen Patentlösungen präsentiert werden, die dem Dummen schlüssig erscheinen und die haargenau als Rechtfertigung taugen, für etwas, was man schon sehr lange realisiert sehen möchte. Nach dem Motto: wer heilt hat Recht, egal um welches Thema es geht.

Heil dem, der uns von den muslimischen Schmarotzern befreit, die den Steuersäckel extrem belasten, was natürlich in Zeiten einer Finanzkrise nicht mehr tolerierbar ist.

Heil dem, der alle Ausländer des Landes verweist, damit sie uns keine Arbeitsplätze mehr wegnehmen können.

Heil dem, der den Deutschen Deutschland zurückgibt, damit es keine Probleme mehr mit anderen Kulturkreisen gibt und deutsche Kinder wieder beruhigt zur Schule gehen können.

Weitere Sätze dazu,  kann sich jeder selbst denken.

Auf alle Fälle danke Herr Sarrazin, dass Sie als geistiger Brandstifter dazu beigetragen haben, die Mehrzahl der Deutschen aus ihrer Reserve zu locken. Nun weiß endlich die ganze Welt, dass es bestimmt ein deutsches Nazi-Gen geben muss.

„Es gibt keinen Volks-IQ“

Der Bonner Genetiker Markus Nöthen betont, dass Lernfähigkeit keine Frage der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozioalen Gruppe ist.

Herr Professor Nöthen, Thilo Sarrazin beschreibt Migranten-Gruppen wie Araber oder Türken als bildungsfern und lernschwach und leitet diese Eigenschaften auch von genetisch vererbten Anlagen her. Sind solche Thesen wissenschaftlich haltbar?

MARKUS NÖTHEN: Nein. Sarrazin bezieht sich auf Studien, nach denen 50 bis 80 Prozent der Intelligenz genetisch begründet seien. Fest steht, dass Intelligenz zu gewissen Teilen vererbt werden kann, es durch die Vielzahl der beteiligten Gene aber bei Nachkommen immer wieder zu neuen Kombinationen kommt. Weniger intelligente Eltern können hochintelligente Kinder haben und umgekehrt. Die Bandbreite ist riesengroß. Außerdem spielen die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen, in denen Kinder aufwachsen, für die Intelligenz ebenfalls eine wichtige Rolle. Wenn Migranten aus ländlichen Gebieten ohne nennenswerte Bildungsangebote zu uns kommen, ist deren Bildungstand logischerweise im Durchschnitt eher gering. Aber über die durchschnittliche Intelligenz dieser Gruppe sagt das überhaupt nichts aus. Sie wird eine ähnliche Zusammensetzung aus intelligenten und weniger intelligenten Mitgliedern aufweisen wie die Bevölkerung insgesamt.

Was weiß die Humangenetik denn über die Bedeutung genetischer Anlagen für bestimmte Eigenschaften?

NÖTHEN: Auch die neueste Forschung hat noch nicht verstanden, welche genetischen Anlagen und Konstellationen für die Ausprägung von Intelligenz ausschlaggebend sind. In jedem Fall kann man heute sagen, dass die Chancen eines Kindes, seine Fähigkeiten zu entwickeln, ganz erheblich von der ökonomischen Situation und dem Bildungsstand der Eltern abhängen. Gesellschaftspolitisch muss es doch darum gehen, jedes einzelne Kind seinen Fähigkeiten gemäß zu fördern. Ob es besonders intelligent ist oder nicht, kann sich immer nur am Individuum erweisen, nicht nach der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe.

Sarrazin legt aber nahe, dass ganze Volksgruppen aufgrund genetischer Merkmale weniger intelligent sind als andere. Zugespitzt könnte man seine These so formulieren: Türken sind im Schnitt doofer als Deutsche.

NÖTHEN: Das ist absurd. Natürlich unterscheiden sich Volksgruppen auch genetisch voneinander. Spanier und Italiener haben im Durchschnitt dunklere Haare als Finnen und Schweden. In einigen ethnischen Gruppen, die aufgrund einer isolierten Lage etwa auf einer Insel aus wenigen „Gründermüttern“ und „Gründervätern“ hervorgegangen sind, häufen sich auch bestimmte Erkrankungen, die auf ein oder nur ganz wenige Gene zurückzuführen sind. Aber bei hochkomplexen Eigenschaften wie Intelligenz sind Hunderte von Genen im Spiel. Es gibt keinen deutschen oder türkischen „Volks-IQ“ und auch kein einzelnes Intelligenzgen.

Das deutsche Volk ist mit anderen Worten…

NÖTHEN: …vor allem ein politischer, kultureller und historischer Begriff. Jedenfalls sicher keiner, der ein bestimmtes, typisch deutsches genetisches Profil umschreiben würde. Wir sind, in der Mitte Europas, genetisch eine Mischung aus vielen ethnischen Gruppen. In Deutschland haben sich unterschiedliche Ethnien aus dem römischen, keltischen, nordgermanischen und slawischen Kulturkreis mit der ansässigen Bevölkerung über viele Jahrhunderte vermischt. Zu behaupten, es gebe ein deutsches Gen, wäre wirklich an den Haaren herbeigezogen.

Das Gespräch führte Stefan Sauer

6 Gedanken zu “Sarrazin – der Spiegel unserer Gesellschaft

    • Leider nicht nur erstaunlich, sondern größtenteils irr-irrational deutschtüm(p)elnd, menschenverachtend bis -schlachtend, und mitunter von solch bösartig-abartigen menschlichen Abgründen getrieben, daß vom Nazi-Gen zu sprechen beinahe untertrieben ist. Ich traue vielen unserer aufmerksamen Landsleute durchaus eine ganze Menge zu, natürlich auch, daß sie diesen Sarrazin-Blog-Fake für bare Münze nehmen: Aber wenn dann die Rede auf Gas in bewusst gewählten Kontexten und derlei ekelhafter Wortwahl mehr kommt, dann erwische ich mich dabei, ihnen gar nicht mehr über den Weg zu trauen. Und da ist dann der Punkt erreicht, wo ich mir und anderen die Frage stellen muss: Wie konnte und kann es Sarrazin gelingen, von erstaunlich vielen Deutschen (80 Prozent?) zu vernehmen, daß ihr politisches Herz längst nicht mehr zur Mitte hin schlägt? Und woher diese schamlose Dreistigkeit so vieler, die meinen, hier eine Volksgerichtsbarkeit walten lassen zu müssen, die besser heute als morgen das Todesurteil für mißliebige Mitbürger zu vollstrecken sich anschickt?

      Ich würde darum bitten wollen, sich einen gewissen Überblick über die Einträge in besagtem Block zu verschaffen. Und dann nur noch die kleine Bitte, das nicht so stehen zu lassen, wie es eben darin entschieden zu viele sich trauen, sondern dem über eigene, erkennbar menschliche Einträge etwas entgegensetzen. Vor allem jenen, die sich dank Sarrazin schon auf der Siegerstrasse in ein nationales Gebilde sehen, daß dem des Dritten Reiches erschreckend ähnlich sieht!

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  1. So ein Schritt weiter, die Bundesbank hat den Sarrazin entlassen, der Wulf wird ja nix dagegen einzuwenden haben. Jetzt ist der Gabriel am Zuge. Ich bin mal gespannt wie das bei der SPD jetzt vorangeht, denn der Gabriel hat sich ja am Wochende entsprechend geäussert.

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  2. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, „Elemente des Antisemitismus – Grenzen der Aufklärung“:

    „Denen, die Natur krampfhaft beherrschen, spiegelt die gequälte [Natur] aufreizend den Schein von ohnmächtigem Glück wider.
    Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil es überhaupt erst Glück wäre.“

    http://www.antisemitismus.net/theorie/adorno-2.htm

    Sarrazin hat die Juden gegen andere Machtlose ausgetauscht: die Hartz IV Empfänger und muslimischen Ausländer.

    Die Zustimmung für Sarrazin kommt ja auch gerade von denen, die gar nicht unmittelbar betroffen sind. Von denen, die Ausländer-Ghettos und Hartz IV Empfänger nur aus weiter Ferne kennen.

    Vielleicht gibt es ein menschliches Grundbedürfnis, populär so formuliert:

    „Mir geht es nicht gut, aber wenn es den anderen schlechter geht, geht es mir schon wieder besser.“

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